Margret Kreidl
(* 2. Jänner 1964 in Salzburg)
Strophen
Mund kommt von munden. Du schmeckst
den Duft von Holunderblüten. Honig tropft,
ein süßer Name liegt dir auf der Zunge.
Das ist die Bienenstrophe.
Aufschäumender Traum, ich schwimme
oben. Der Schaumschläger ist ein Tenor,
er trägt die Arie von den Zitronen vor.
Das ist die Seifenstrophe.
Immergrün ist die Farbe der süßen Erinnerung.
Du weißt, was das Blatt Papier will, es will
weiß sein. Wiederhole dich nicht.
Das ist die Schlüsselstrophe.
Der Vogel wird ins Spaltholz geschoben.
Es zwitschert. Der Vater liebt die Tochter.
Die Mutter ist tot. Erde im Ohr, Sarg ohne Chor.
Das ist die Holzstrophe.
Hier liegt das Fleisch in Dunkelheit. Wer
treibt es ins Licht? Lunge, Herz, Leber.
Die Nieren fehlen. Du isst dich selber.
Das ist die Fleischstrophe.
Ein Loch oben und eines unten. Ich suche
im Spiegel meinen Nabel. Der Satz hat
keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende.
Das ist die letzte Strophe.
Aus: Jahrbuch österreichischer Lyrik 2022/23. Bernhardt, Alexandra (Herausgeber). Wien: Edition Melos, Dezember 2023, S. 199